SITZEN: so gefährlich wie Rauchen?

„Sitzen ist gefährlicher als Rauchen, tötet mehr Menschen als HIV und ist tückischer als Fallschirmspringen.“ Diese Meinung teilt nicht nur der Autor dieser Aussage Dr. James Levine. Vereinfacht könnte man auch sagen: “Wir sitzen uns tot!“ (MacVean, 2014)

Gestützt auf zahlreiche Forschungsarbeiten kommt man zu der Schlussfolgerung, dass nur zwei Stunden Sitzen am Stück die Risiken für Herzerkrankungen, Diabetes, Rücken- und Nackenschmerzen, Metabolisches Syndrom, Krebs und andere orthopädische Probleme erhöhen (Levine, 2014).

Selbst wenn Sie sich regelmäßig eine Stunde pro Tag bewegen oder trainieren, aber die restliche Tageszeit hauptsächlich im Sitzen verbringen, schmälern Sie Ihre Bemühungen und die positiven Effekte des absolvierten Trainings um ein Vielfaches.

Wie bereits erwähnt behaupten einige Experten sogar, dass Sitzen schädlicher als Rauchen sei. Laut einer in Australien durchgeführten Studie verringert jede Fernsehstunde die Lebenserwartung bei über 25-jährigen um 21,8 Minuten (Veerman et al., 2012). Im Vergleich dazu kostet uns jede Zigarette im Durchschnitt 11 Minuten unseres Lebens (Shaw, Mitchell, & Dorling, 2000).

Bitte verstehen Sie diesen Artikel nicht als Verharmlosung des Rauchens, sondern nur wie dramatisch die Wirkung von langem Sitzen auf Ihren Körper ist. Egal ob Homeoffice oder im Büro, der sitzend arbeitende Mensch erleidet mehr muskuloskelettale Verletzungen als Arbeiter vieler anderen Industriebereiche, inklusive der Baubranche oder der Metallverarbeitung. Sitzen stellt somit zumindest das gleiche Gesundheitsrisiko dar wie das Heben schwerer Lasten. Die WHO stuft körperliche Inaktivität, wie zu vieles und langes Sitzen, heute sogar als weltweit viertgrößte der vermeidbaren Todesursachen ein, mit jährlich geschätzten 3,2 Millionen Todesfällen (Weltgesundheitsorganisation, o. J.).

Der Mensch ist konstruiert sich zu bewegen…
…außer, wenn er schläft. Seit über 200 000 Jahren verbringt der Homo sapiens die meiste Zeit in Bewegung. Um sich fortzubewegen musste er laufen und für sein Essen musste er jagen oder graben. All diese lebenswichtigen körperlichen Aktivitäten designten unseren Körper, hielten uns gesund und ließen uns überleben. Doch manchmal ist die Evolution erbarmungslos. Der eigentlich nur für kurze Pausen erfundene Stuhl für die Arbeit am Feld oder in der Fabrik, führte relativ schnell im 21. Jahrhundert zu einer vorwiegend sitzenden Lebensweise. Dazu kamen Automobil, Fernseher und irgendwann danach der Computer und schon war unsere Entwicklung zu vorwiegend sitzenden Lebewesen vollzogen.

Der durchschnittliche Mitteleuropäer der Gegenwart verbringt im Schnitt 12 Stunden täglich sitzend. Das glauben Sie nicht? Dann hier ein kurzes Beispiel. Für viele Menschen beginnt der Tag im Sitzen beim Frühstück, sie sitzen am Weg in die Arbeit, sie sitzen in und bei der Arbeit, sie sitzen beim Mittagessen um danach gleich wieder am Arbeitsplatz zu sitzen. Von dort sitzend im Auto, im besten Fall ins Fitnesscenter, jedoch wahrscheinlich auch hier vorrangig trainierend im Sitzen z.B. auf dem Ergometer oder an den verschiedenen Geräten. Danach ab nach Hause zum Abendessen…richtig…im Sitzen und dann noch ab auf die Couch.

Klarerweise ist es uns nicht möglich, in der heutigen Zeit alles zu Fuß zu absolvieren und zusätzlich erscheint uns Sitzen auch noch so natürlich und unproblematisch. Würde man nur 20 Minuten am Stück in perfekter Körperhaltung sitzen und sich die restlichen Stunden während des Tages bewegen, wäre dies natürlich auch nicht schädlich. Nur verhält es sich meistens leider genau anders herum (Starrett, Starrett, & Cordoza, 2016).

Die Folgen des Sitzens

Unser Körper und unsere Gelenke sollten für ca. 110 Jahre funktionieren, wir sind für Bewegung gebaut und dadurch für Schmerzfreiheit im Ruhezustand. Trotzdem leiden viele Menschen bereits im Alter von 30-40 Jahren an immer wiederkehrenden Schmerzen. Wenn wir über einen längeren Zeitraum hinweg sitzen, nehmen wir automatisch Körperhaltungen ein, bei denen unsere Muskeln nicht aktiviert werden. Diese schalten sich regelrecht ab, obwohl sie zum Stützen und Stabilisieren von Rumpf und Wirbelsäule wichtig wären. Dadurch werden unsere Körperfunktionen geschwächt und viele orthopädische Probleme wie Funktionsstörungen im Hals- Nacken- und Rückenbereich kommen zum Vorschein. Diagnosen wie Cervicalsyndrom, Karpaltunnelsyndrom, Lumbalgie, Beckenbodendysfunktion etc. sind keine Seltenheit.

Klingt das zu übertrieben? Keineswegs! Erinnern Sie sich an Ihre Kindheit…Krabbeln, Laufen, Springen…ohne Schmerzen. Sie waren ständig in Bewegung. Würden wir als Erwachsene diesen Zustand des „In-Bewegung-Sein“ in unserer sitzorientierten Welt als „normal“ betrachten, dann würden wir unsere Leiden oder Schmerzen wahrscheinlich auch öfters hinterfragen.

Die vier Grundregeln

(nach Starrett, Starrett, & Cordoza, 2016)

1. Sitzen Sie so wenig wie möglich!

Bemühen Sie sich Ihre Zeit im Sitzen soweit als möglich zu verkürzen und nur dann zu sitzen, wenn es wirklich nötig ist. Auch kleine Veränderungen ergeben mit der Zeit einen Riesenunterschied. Natürlich setzen Sie sich zum Mittag- oder Abendessen bitte gemütlich an den Esstisch. Sie werden auch weiter mit dem Auto oder Rad in die Arbeit fahren. Jedoch versuchen Sie z.B. die Couch vermehrt als Trainingsgerät für Dehn- und Mobilisationsübungen zu verwenden. Versuchen Sie Ihren Arbeitsplatz zu verändern und wechseln Sie zu einem Stehschreibtisch. Selbst wenn Sie aus gegebenen Gründen diese Möglichkeit nicht vorfinden, dann kann ein Laptop einfach mit ein paar Kisten oder Büchern erhöht werden und Sie können im Stehen arbeiten. Wenn Sie den ganzen Tag sitzen müssen, dann achten Sie darauf dies zumindest in optimaler Haltung zu tun. Trotzdem bedenken Sie, auch in bester biomechanischer Position…Sie sitzen noch!

2. Bewegen Sie sich mindestens 2 Minuten pro 30 Minuten im Sitzen

Einfache, unkomplizierte Bewegungen und Mobilisationen um ihren Blutkreislauf in Gang zu bringen. Ein kurzer Spaziergang, Arme kreisen, Kniebeugen, einige Male auf die Zehenspitzen hochdrücken etc., kein Workout…ganz lockere körperliche Aktivität. Dies hilft Ihnen nicht nur Ihre Körperhaltung immer wieder zu korrigieren und zu verbessern, sondern auch Ihre Produktivität wesentlich zu steigern.

3. Überprüfen, korrigieren und verbessern Sie Ihre Körperhaltung immer und immer wieder

Gute Körperhaltungen sind einfach und oft in wenigen Minuten zu erlernen. Um Sie zur Gewohnheit zu machen braucht es jedoch Übung. Damit diese guten Körperhaltungen in unserem Alltag zur Normalität werden, müssen Sie Ihre Sichtweise und Einstellung zu richtiger Bewegung und Haltung erweitern und aufs tägliche Leben übertragen. Während des Workouts mit perfekt stabilisiertem Rücken und fünf Minuten später gekrümmt über ihrem Handy…NOPE!!! Leider nur die halbe Miete. Techniken wie das Aufstehen, Vorbeugen, etwas vom Boden aufheben sind dieselben, wie bei Ihrem Training von Kniebeugen, beim Kreuzheben oder bei Rumpfstabilisationsübungen. Sie benötigen ebenfalls den vollen Bewegungsumfang, um Ihre Körperstrukturen nicht zu sehr zu belasten. Außerdem werden Sie in weiterer Folge feststellen, dass sich durch die Verbesserung Ihrer Körpermechanik und Körperhaltung außerhalb des Trainings auch die Ergebnisse während des Trainings sehr wahrscheinlich verbessern werden.

4. Absolvieren Sie täglich 10-15 Minuten elementare Mobilisationsarbeit

Mobilisationsarbeit ist nachhaltiger und effektiver, wenn sie zur täglichen Routine wird. Sie können damit kurzfristig akute Beschwerden sofort behandeln und langfristig viele Probleme vermeiden die Schmerzen hervorrufen. Auch hier ist die Wichtigkeit von Regelmäßigkeit und Konsequenz zu erwähnen. Schließlich verhärteten und versteiften Ihre Muskeln und Gelenke auch nicht über Nacht, sondern meist über einen langen Zeitraum hinweg.

Wir wollen versuchen Ihnen hiermit ein Grundverständnis für die Wichtigkeit richtiger Bewegung zu vermitteln. Weiters, Ihnen die Grundlagen und Prinzipen richtiger Körperhaltungen näher bringen, aufzeigen welche Fehler Sie vermeiden können und Ihnen einige Tools und Möglichkeiten mitgeben um Ihre Beweglichkeit zu verbessern. Damit können Sie diversen Veränderungen in Ihrem Bewegungsmuster entgegensteuern, einem etwaigen inaktivem Lebensstil entgegenwirken und Schmerzen und Beschwerden vermeiden.

Quellen:
Levine, J. A. (2014). Get Up! Why Your Chair is Killing You and What You Can Do About it. New York: Griffin.

MacVean, M. (2014, Jänner 24). ‘Get Up!’ Or lose hours of your life every day, scientist says. Los Angeles Times. Abgerufen von www.latimes.com/science/sciencenow/la-sci-sn-get-up-20140731-story.html

Shaw, M., Mitchell, R., & Dorling, D. (2000). Time for a smoke? One cigarette reduces your life by 11 minutes. BMJ, 320(7226), 53. doi.org/10.1136/bmj.320.7226.53

Starrett, K., Starrett, J., & Cordoza, G. (2016). Deskbound: Standing Up to a Sitting World (1. Edition). Las Vegas: Victory Belt Publishing.

Veerman, J. L., Healy, G. N., Cobiac, L. J., Vos, T., Winkler, E. A. H., Owen, N., & Dunstan, D. W. (2012). Television viewing time and reduced life expectancy: A life table analysis. British Journal of Sports Medicine, 46(13), 927–930. doi.org/10.1136/bjsports-2011-085662

Weltgesundheitsorganisation. (o. J.). Physical activity. Abgerufen 2. März 2021, von www.who.int/westernpacific/health-topics/physical-activity