Mythos oder Medizin: 10.000 Schritte am Tag – Was steckt dahinter?

Tägliches Schritteziel: 10.000. Wir haben es alle schon mal gehört, empfohlen oder von unserer Fitnessuhr vorgeschrieben bekommen. Aber steckt hinter dieser Zahl auch ein wissenschaftlicher Hintergrund oder hat sie sich jemand nur willkürlich aus der Luft gezogen?

Lange hat meine Recherche nicht gedauert um herauszufinden, dass das Limit von 10.000 Schritten am Tag das Produkt eines über 50 Jahre alten Marketing Gags aus Japan ist. Mit den Olympischen Spielen 1964, als hoffnungstragende Inspiration um dem Gesundheitsbewusstsein und Aktivitätslevel der japanischen Allgemeinbevölkerung einen Boost zu verschaffen, entwickelte Yamasa den ersten kommerziell erhältlichen Schrittezähler – den Manpokei. Wörtlich übersetzt steht „Man“ für 10.000, „po“ für Schritte und „kei“ für Meter. Um der immer gemütlicher werdenden Gesellschaft, die lieber Rolltreppen und Lifte benutzte entgegenzuwirken, kam von Dr. Ohya damals die  Grundvorgabe von 10.000 Schritten, die man bestenfalls täglich absolviert. Diese Empfehlung hat sich Yamasa geschnappt und den Manpokei auf den Markt geworfen.

Die Aktion funktionierte damals sehr gut und tut es nach 50 Jahren offensichtlich immer noch. Das Neuaufleben dieser sogenannten Schritte-Challenge beweisen diverse Fitnessgadgets und mittlerweile auch schon unsere Handys, die stumm und leise im Hintergrund unseres Alltages unsere Schritte zählen.

Unzählige Fitnesstracker bieten heutzutage nicht nur fixe Vorgaben wie 10.000 an, sondern passen sich der durchschnittlichen täglichen Schritteanzahl an, die man über längere Zeiträume geht. Durch deren zusätzliche Social Communities und Apps kann man sich mit seinen Freund*innen in Verbindung setzen und sich gegenseitig zu Schritte-Challenges herausfordern oder nachverfolgen wie aktiv der oder die andere Bekannte ist.

Nachdem ich selbst dem Schrittewahn verfallen war, wollte ich endlich eine Antwort auf die Frage „Wie viele Schritte am Tag sind denn jetzt genug?“.

Als damals das Ziel von 10.000 gesetzt wurde, gab es natürlich noch nicht die Vielzahl an Studien wie sie heute täglich publiziert werden. Glücklicherweise hat sich seit 1964 einiges getan.

Hall et al. (2020) untersuchten erst kürzlich in ihrem Systematic Review 17 Studien mit insgesamt 30.000 Erwachsenen die von 6 Monaten bis zu 10 Jahren beobachtet wurden. Sie kamen zum Schluss, dass 1000 Schritte pro Tag zusätzlich im Vergleich zum Ausgangsniveau, zu einer geringeren allgemeinen Mortalität und einer niedrigeren Wahrscheinlichkeit von Herzkreislauferkrankungen führt. Ein wichtiger Punkt: Egal von welchem Tagesniveau an Schritten man beginnt, die positiven Auswirkungen der zusätzlichen Schritte machen sich sofort bemerkbar – „mehr hilft mehr“.

Nachdem die Frage zur benötigten täglichen Schrittezahl einigermaßen geklärt war, tat sich bei mir aber ein großes Fragezeichen im Bezug auf die Intention dieses Schritteziels auf.

In unserer schnelllebigen Leistungsgesellschaft, in der wir phasenweise oft nur mehr versuchen den Tag zu überstehen, pressen wir jetzt auch noch ein zusätzliches Limit auf unsere To-Do Liste, die wahrscheinlich schon überfüllt ist mit Arbeitsdeadlines, Terminen und persönlichen Erledigungen. Und das alles in 24 Stunden, von denen wir am besten auch noch einen Teil davon schlafen sollten.

Der Lifestyle-Trend der letzten Jahre fokussiert massiv auf Produktivitätsmaximierung, da darf der grüne Erledigt-Haken nach dem Erreichen des Schritteziels natürlich nicht fehlen.

Viel wichtiger ist aber die Essenz dieses ganzen Schrittespiels – nämlich BEWEGUNG. Gerade in Zeiten von Homeoffice und Distance Learning, ist es umso bedeutender, unseren Körper dazu zu verwenden, wofür er gemacht ist. Gehen, Laufen, Heben, Tragen, Beugen, Strecken, Drehen und und und. Damit wir unsere Gesundheit in allen Lebensbereichen langfristig am besten aufrecht erhalten, braucht unser Körper ein gewisses Maß an Belastung. Unsere Knochen, Sehen, Bänder, Muskeln so wie auch unser Gehirn wollen täglich verwendet werden, um voll funktionsfähig zu bleiben.

Dr. Micheal Gregor beschreibt dies in seinen beiden Büchern „How not to die“ und „How not to diet“ recht anschaulich. Um „westliche“ Zivilisationskrankheiten wie Herzkreislauferkrankungen & Diabetes II kann man sich einerseits drumherum essen und anderseits kann man ihnen davonlaufen. Sprich die Grundpfeiler, auf denen unsere physische Leistungsfähigkeit (und somit auch Gesundheit) aufbaut, sind eine ausgewogene Ernährung und ausreichend Bewegung. Mit Nahrung als Treibstoff, können wir uns an jegliche Art von Bewegung heranwagen. Vom Laufen zum Felsklettern oder Wäsche aufhängen. Langanhaltende körperliche Belastung wie 45 Minuten Rudern sind genauso wichtig wie die kleinen alltäglichen Aktivitäten, denen oft nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt wird, wie z.B. das Bett neu überziehen, den Müll runterbringen und dabei die Treppen statt den Lift zu nehmen. All diese kleinen Tätigkeiten häufen sich über den Tag und machen einen großen Unterschied. Wenn man es dann noch schafft, seine Lieblingslaufrunde dranzuhängen, optimal.

Schwierige Lebensphasen wie die jetzige, an denen wir alle neue Wege finden müssen um uns anzupassen, bieten auch die Möglichkeit sein Bewegungsverhalten in ein neues Licht zu rücken. Bist du zB im Homeoffice an Schreibtisch und Laptop gebunden? Versuch doch mal einen Stehtisch draus zu machen. Um nochmal zu Micheal Gregor zurück zu kehren, er hat sich unter seinem Stehtisch ein Laufband gestellt um so während Videokonferenzen seine täglichen Schritte zu absolvieren! Wenn die gewohnten Wege zu Arbeit, Schule oder Uni fehlen, dann könnte der Lebensmitteleinkauf möglicherweise auch zu Fuß gemacht werden und das Eingekaufte dann von dir selbst getragen werden anstatt es im Auto zu transportieren. Stell dir während deiner Arbeitszeit im Homeoffice einen Wecker, damit du spätestens alle 60 Minuten mal aufstehst, dich streckst und vielleicht 20 Kniebeugen machst, dir dann ein neues Glas Wasser holst, lüftest und die Wäsche aufhängst die gerade fertig geworden ist. Aktiv zu bleiben hilft nicht nur unserem Bewegungsapparat, sondern hilft auch andere Systeme unseres Körpers wie Herz, Gefäße, Lunge, Verdauungstrakt usw auf Trapp zu halten. Bewegung erhält auch unser psychisches Wohlbefinden, indem wir uns mal zurück an die Wurzeln unseres Daseins begeben und unseren Körper in den Mittelpunkt stellen. Zusätzlich gibt es dann noch Goodies, wie die positiven Auswirkungen auf die Schlafqualität und der Spaß, der beim gemeinsamen Sporteln mit Freund*innen entsteht.

Wie schaffe ich es nun langfristig Bewegung mit meinem Alltag zu kombinieren?

Für mich ist der wichtigste Antreiber für Motivation, der Grund warum ich mir ein Ziel setze oder mir Veränderung wünsche. Bewege ich mich nur, weil mir jemand sagt das es gut für meine Gesundheit ist, bin ich früher oder später mit Schuldgefühlen und Erwartungsdruck konfrontiert. Quäle ich mich dreimal die Woche für eine Stunde am Crosstrainer, nur damit ich Sport gemacht habe, macht dies erstens einen ansonsten inaktiven Alltag nicht wieder wett und zweitens werde ich auf Dauer einen negativen Bezug zu Bewegung und Sport aufbauen, der mit Druck und Zwang verbunden ist. Wie wichtig Bewegung ist, ist dem Großteil der Menschheit mittlerweile klar. Aber wie in vielen Aspekten im Leben ist es entscheidend, Spaß und einen freudigen Zugang zur Aufgabe zu finden.

Wie ich nun festgestellt habe, ist der Unterschied zwischen 7000, 8000 oder 9000 Schritten marginal. Je mehr desto besser, aber keine fixe Zahl die auf jede*n Einzelne*n anwendbar. Wichtig ist es für sich selbst herauszufinden, warum wir uns an ein externes Ziel wie die 10.000 Schritte wenden. Je klarer der Sinn und der persönliche Wert des Zieles für uns sind, umso leichter wird es uns fallen, unsere selbstgesteckte Ziellinie zu erreichen. Bewegung in seinen Alltag einzubauen ist ein experimenteller Prozess. Auf dieser Reise muss jede*r selbst herausfinden, was möglich ist und was einem am meisten Freude bereitet. Wenn man mal hin und wieder einen Tag auf der Couch sitzt und Netflix glotzt, sollte man sich dadurch nicht entmutigen lassen. Diese Tage hab ich auch als professionelle Leistungssportlerin. Ruhe und Erholung braucht unser Körper genauso. Wie gut ich mich nach einem Tag voll Bewegung und Sport fühle, ist jedoch der Kontrast der mich jedes mal wieder vom Sofa holt.

 

Quellen:

„Active living is more than just physical fitness or exercise. It means making physical activity a part of daily living“  Choi et al. (2007)

„Aktiv leben ist mehr als nur körperliche Fitness oder Sport. Es bedeutet körperliche Aktivität in das alltägliche Leben einzubauen“ Choi et al. (2007)

Choi, B., Pak, A., Choi, J., Choi, E. (2007). Daily step goal of 10,000 steps: A literature review. Clin Invest Med, 30 (3).

Hall, K. et al. (2020). Systematc Review of the prospective association of daily step counts with risk of mortality, cardiovascular disease, and dysglycemia. International Journal of Behavioral Nutrition and Physical Activity, 17:78. doi.org/10.1186/s12966-020-00978-9

www.ft.com/content/2b146d46-f274-11e5-9f20-c3a047354386